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  • Christian Knoche

Work Wars I - Alltag im Todesstern

Es gibt Menschen, die brauchen manchmal etwas länger. Es gibt Menschen, die brauchen immer etwas länger. Und dann gibt es noch Hartmut.

Hartmut war absolut unfähig, auf ein ‚Guten Morgen, wie gehts es Dir?‘, in weniger als fünf Minuten zu antworten. Egal was es war, er musste sich zwanghaft in den Mittelpunkt drängen, um dann ewig ausholend, weitschweifig und fern des eigentlichen Themas seine Einlassungen loszuwerden. Dienstliche Gespräche waren mit ihm nicht unter zwei Stunden zu führen, egal wie geringfügig oder unwichtig das Thema auch sein mochte. Er konnte innerhalb weniger Sätze von der Normung von Schraubenköpfen auf etwas wie die Geburt seines zweiten Sohnes ablenken und dann darüber ohne Luft zu holen für eine Stunde palavern. Hartmut trug undefinierbar gefärbte und gemusterte Hemden, auch im Winter stets kurzärmlig, dazu eine schlecht gebundene Krawatte, ein Jackett aus irgendeinem groben, grauen Stoff und Hosen, die Schnitt und Passform nach als Jeans gegolten hätten, aber keine Jeans waren. Dieses ohnehin schon abschreckende Erscheinungsbild wurde komplettiert von einer sauber gestutzten Rotzbremse unter einer beachtlichen Hakennase und einer Frisur, die den Namen nicht verdiente. Er bestand darauf, seine Haare stets in einer Länge zu tragen, die es der vorderen Hälfte ermöglichte, in einer Art abgekauten Pony vor seiner Stirn zu baumeln, während die hintere Hälfte in alle Richtungen abstand.

Hartmut war vor vielen Jahren, irgendwann nach der Bundeswehr und dem Maschinenbaustudium, mal ein guter Anwendungstechniker. Seine Fachkenntnisse über allerlei Arten von Maschinen und Anlagen und wie man die beweglichen Teile zu warten hatte, waren unbestritten. Er war ein Anlaufpunkt für jegliche Schwierigkeiten technischer Natur und konnte in den allermeisten Fällen das Problem lösen. Kunden und Kollegen gleichermaßen schätzten seine Fähigkeiten oder waren zumindest darauf angewiesen, und so tolerierten oder ignorierten sie seine elendig langen Tiraden über diesen oder jenen Sachverhalt. Mehr als einmal war jemand dabei eingeschlafen oder hatte den Raum verlassen müssen, was Hartmut aber nie daran hinderte, munter weiter zu seiern. Hätte Hartmut in seinem Metier bleiben dürfen, niemandem wäre es weiter aufgefallen, dass er bis zur Pensionierung Lösungen für technische Probleme fand und dabei blutende Ohren verursachte. Schaden und Nutzen hätten sich die Waage gehalten und er wäre irgendwann in der Versenkung der Rente verschwunden.

Da Hartmut sich aber mit Karriereambitionen trug, passierte etwas Anderes. Seine Ambitionen an sich waren noch nicht das Problem. Sie wurde erst zu einem Problem, als ein alter Schulfreund von ihm zum Vorstand einer Unternehmenssparte ernannt wurde und Hartmuts Ambitionen förderte. Dieser Schulfreund, nennen wir ihn Bertram, hatte, wie er stets betonte, die Ehre, diesen Bereich leiten zu dürfen. Auch er war in früheren Zeiten mal ein recht fähiger Techniker gewesen und konnte sich im Gegensatz zu Hartmut kurzfassen und schnell entscheiden. In technischer Hinsicht hatten sich seine Entscheidungen signifikant häufiger als richtig denn als falsch erwiesen, was ihm letztlich den Weg zu seinem Posten ebnete. Nun gab es dort aber weit weniger technische Entscheidungen zu fällen, sondern es galt, ein Händchen für Menschen und deren Fähigkeiten und Probleme zu entwickeln.

Bertrams Händchen für Menschen war so zielsicher und zuverlässig falsch, dass er innerhalb von zwei Jahren fast den gesamten Bereich in allen wesentlichen Positionen mit bemerkenswert unfähigen Menschen besetze. Dazu gehörte auch Hartmut, den er zum Leiter des Vertriebs beförderte. In dieser Funktion erhielt Hartmut wesentlich mehr Geld, einen deutlich größeren Dienstwagen und das Kommando über zwanzig Mitarbeiter, die vor kurzem noch seine Kollegen waren. Niemand von ihnen verstand, warum ausgerechnet Hartmut in diese Position gehievt wurde. Alle Mitarbeiter waren alte, geschulte Vertriebsprofis mit klar zugewiesenen Aufgaben und Gebieten. Alles, was sie benötigten, war hin und wieder ein wenig Unterstützung aus der Zentrale. Informationen über neue Produkte, Verkaufsargumente, Preiskalkulationen – nichts Aufregendes. Prinzipiell hätte also auch ein Dackel oder ein Schimpanse im Anzug den Job erledigen können, noch prinzipieller hätte man eigentlich gar niemanden auf die Stelle setzten müssen. Aber am prinzipiellsten war es für Leute wir Bertram unvorstellbar, dass eine Abteilung mit zwanzig Mitarbeitern ohne Abteilungsleiter auskommen könnte. Die meisten Techniker hatten aber ohnehin keine Karriereambitionen. In ihrer Natur als Problemlöser waren sie sehr viel unterwegs zu Kunden, hielten Schulungen ab oder unterstützten den Vertrieb mit Überzeugungsarbeit durch Erfolgsbeispiele. Kunden und Spezialgebiete waren klar und sinnvoll von der Truppe selbst zugeordnet, und so beschränkte sich die Aufgabe des Abteilungsleiters im Wesentlichen auf das Führen der jährlichen Personalgespräche, das Unterschreiben von Urlaubsanträgen und einigen administrativen Tätigkeiten, wie dem regelmäßigen Rapport von Kennzahlen nach oben. Es herrschte also allgemeines Unverständnis, aber auch keine übermäßige Sorge über Hartmuts Beförderung, denn man war der Ansicht, allzu großen Schaden könne er dort nicht anrichten.

Hier aber hatte man sich getäuscht.

Hartmut machte sich sofort und mit großem Eifer daran, das zu tun, von dem er glaubte, es sei die Aufgabe eines Abteilungsleiters. Er setzte regelmäßige Besprechungen von zwei Stunden an, immer montags, mittwochs und freitags. Er bestand auf persönlicher Anwesenheit oder mindestens der Einwahl über Videotelefonie. Er wies, ausstaffiert wie ein Zirkusdirektor, die Leute darauf hin, dass in den Einladungen ausdrücklich ‚Business Casual‘ als ‚Dresscode‘ vermerkt sei, und dies bedeute nun mal nicht Jeans. Nun mussten gut ausgebildete Leute, deren Aufgabe es war, eigenverantwortlich zu reisen und vor Ort verfügbar zu sein, viele Stunden pro Woche in unnötigen Besprechungen zubringen und sich dazu noch schlecht sitzende Anzüge kaufen, für die sie ansonsten keinerlei Verwendung hatten. Hartmuts Monologe und sein unerträgliches Geschwafel sprengten regelmäßig den Zeitrahmen. Techniker, die auf Ölbohrplattformen, an Windkraftanlagen oder in Bergwerken unterwegs waren, mussten ihre Arbeit unterbrechen und sich an einen Ort begeben, der Videotelefonie ermöglichte. Zusätzlich dazu führte Hartmut wöchentlich mit allen Einzelgespräche, in denen er sich detailliert über anstehenden Kundenbesuche und Reisen informieren ließ. Dann verfiel er regelmäßig mit nach oben verdrehten Augen in einen Monolog über die Reiseplanung und schrieb seinen Mitarbeitern vor, welche Verkehrsmittel sie zu wählen hätten, welche Hotels sie buchen sollten, und wie sie wann genau am besten von A nach B kämen. All dies führte dazu, dass innerhalb eines Jahres die Kosten explodierten, die Effizienz sank und die Kernaufgaben der Abteilung beinahe völlig zum erliegen kamen. Alle Mitarbeiter, deren persönliche und finanzielle Situation es zuließ, kündigten. Der Rest verlangte nach Versetzung in andere Abteilungen und meldete sich bis dahin so oft wie möglich krank. Da Hartmut diese Resultate aber nicht kognitiv mit seiner Person in Verbindung brachte, erfand er für jede Kündigung, jede miserable Kennzahl und jeden Aufreger irgendeine haarsträubende Geschichte, die er zur Not über Stunden ausweitete. Und da Bertram kognitiv nicht verarbeiten konnte, dass er irgendeine Stelle fehlbesetzt haben könnte, funktionierte diese Strategie so lange, bis sich der Eigentümer des Unternehmens und Vorstandsvorsitzende zu Wort meldete und aus dem entfernten Hauptsitz anreiste. In einer grandiosen Fehleinschätzung der Lage nahm er der restlichen Führungsebene Entscheidungsbefugnisse weg, gab Bertram noch mehr davon, und legte ihm nahe, die Stelle des Vertriebs neu zu besetzten.

Nun ergab es sich, dass zufällig zur gleichen Zeit die Muttergesellschaft eine Akquisition tätigte, die thematisch zu Bertrams Bereich passte. Es war ein sorgfältig ausgewähltes und genau geprüftes Geschäftsfeld von Spezialitäten und stand wirtschaftlich und auch produktseitig glänzend da. Es war eines der wenigen Gebiete, von denen Hartmut als Anwendungstechniker keine Ahnung hatte. Also machte Bertram ihn umgehend zum Leiter dieses Geschäftsfeldes. In dieser Funktion hatte Hartmut nun das Kommando über vierzig Mitarbeiter und ein weltweites Netz von Händlern und Distributoren, bereiste ausgiebig China, Japan und Südamerika und brachte jetzt auf interkulturellem Niveau die Menschen mit seinen Monologen und seiner Aufmachung zur Verzweiflung. Während es innerhalb des Unternehmens lediglich auf Unverständnis und Ablehnung stieß, war die Außenwirkung katastrophal. Im Geschäftsleben streng auf Höflichkeit und Etikette achtende Asiaten wandten sich mit Grauen ab und kauften schlechtere Produkte zu höheren Preisen, nur um nicht mehr von Hartmut und seiner Frisur behelligt zu werden. Innerhalb von zwei weiteren Jahren hatte Hartmut ein gut gehendes Geschäft von vierzig auf zwanzig Millionen Euro Jahresumsatz halbiert und ein Drittel der Mitarbeiter, natürlich die Besten, vergrault. Der Schaden für das Unternehmen und für die teuer bezahlte Marke lag beim zigfachen.

Hartmut reagierte darauf mit erneuten Monologen bei Bertram, der ihm mehr Budget aus anderen, noch funktionierenden, Bereichen zuschusterte. Er setzte damit ein Internetportal auf, vermittels dessen er Händler und Distributoren mit aktuellen Informationen zu versorgen plante. Was diese von ihm erwarteten, waren technische Informationen über die Produkte, Broschüren, mit denen sie zu ihren Kunden gehen konnten und regelmäßige Aktualisierungen der stark rohstoffabhängigen Preise. Was sie bekamen, war ein völlig unüberschaubares Wirrwarr an Dokumenten. Hartmut verbrachte Monate damit, selbst Word-Dokumente zu erstellen, die in puncto Inhalt und Länge seinen Soliloquien in nichts nachstanden. Er stellte einen ‚International Business Development Manager‘ ein, den er dann damit beschäftige, diese Dokumente mit neuesten Informationen von Wikipedia zu aktualisieren und jedes einzelne in fünf Ober- und drei Unterhierarchiestufen zu gliedern, die dann wiederum mit unterschiedlichen Logins für die Händler freigeschaltet wurden. Er las persönlich jedes einzelne Dokument ausgedruckt durch und machte mit Rotstift Verbesserungen ganzer Abschnitte. Diese verbesserte er dann, nachdem die Dokumente geändert und erneut ausgedruckt wurden, wieder in den Urzustand zurück. So kreierte er für vierzig große Kunden jeweils fünfzehn verschiedene Dokumente mehr oder weniger gleichen Inhalts, die regelmäßig aktualisiert werden mussten. Diese ließ er dann noch von einer externen Agentur in jeweils zehn Sprachen übersetzen und korrigierte auch hier die englisch- und französischsprachigen Ausfertigungen mehrfach selbst. Englisch beherrschte er dabei nur mittlermäßig, Französisch überhaupt nicht. Die Händler und Distributoren wiederum hatten anderes erwartet, als mit veralteten und unvollständigen Informationen über ihnen lang persönlich bekannte Kunden versorgt zu werden und beschwerten sich bei der Geschäftsleitung. Hartmut überzeugte Bertram in einem zweieinhalbstündigen Monolog davon, dass auf die Situation am besten mit einem kostspieligen Reisemarathon seinerseits zu reagieren sei, und Bertram befürwortete das. So machte sich denn Hartmut, ausgestattet mit seinen Dokumenten im Druckformat, einem Round-the-World-Ticket in der Business Class und eine Kreditkarte ohne Limit auf den Weg, um in mühevoller Kleinarbeit auch noch den Rest des Geschäftes zu ruinieren. Der ‚International Business Development Manager‘ sagte Hartmut in einem Personalgespräch auf Nachfrage, er halte diese Maßnahmen für nicht zielführend und schlug einige kurzfristig umsetzbare Aktionen vor. Zu Hartmut als Person befragt, regte er an, sich manchmal etwas kürzer zu fassen. Kurz darauf wurde er als sogenannter ‚Non-Performer‘ innerhalb der Probezeit entlassen.

Einige Jahre später dümpelt das Geschäftsfeld mit einst stolzen vierzig Millionen Jahresumsatz bei drei Millionen Euro umher. Hartmut reist immer noch unbehelligt um die Welt. Bertram leitet noch immer den Vorstand.

Profitieren tun davon lediglich noch Hartmuts Frau und die beiden Kinder, die wegen seiner dauernden Dienstreisen gut zwei Drittel des Jahres zu Hause ohne Ohrenstöpsel rumlaufen und tatsächlich auch ab und zu mal einen Satz zu Ende sprechen dürfen.

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