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  • Christian Knoche

Work Wars V - Alltag im Todesstern

Aktualisiert: 10. Aug. 2021


Ich war froh, endlich am Flughafen zu sein. Der Flug war kurz, eine Verspätung nicht in Sicht und das Wetter blendend. Es würde trotzdem mindestens elf Uhr am Abend werden, bis ich endlich zu Hause ankam, und die Lounge in Bukarest bot ebenfalls wenig Erfreuliches. Außer bequemen Sitzmöbeln und kühlen Getränken musste man auf sämtliche der gewohnten Annehmlichkeiten wie Duschen und Essbares verzichten. Francesco und ich ließen uns in die Sessel fallen, mümmelten angewidert einige Salzcracker und unterhielten uns über die vergangenen zwei Tage. Es waren lange Tage gewesen, in einem Raum ohne Fenster mit unentwegt brummender Klimaanlage und gefüllt mit zu vielen Menschen in Anzügen. Die Themen waren gleichzeitig langweilig und anspruchsvoll, Konzentration fiel schwer und die Verpflegung über den Tag beschränkte sich auf stark zuckerhaltige Getränke, Wasser, zum Mittag lauwarme, wabbelig belegte Brötchen und natürlich die unvermeidlichen Salzcracker. Wenn ich so reflektiere scheint es mir vor diesem Hintergrund nicht mehr allzu verwunderlich, warum sich unser Gespräch irgendwann um das Gefängnissystem der USA zu drehen begann. Ich hatte kürzlich darüber gelesen. Das sich etwa zwei Prozent der amerikanischen Bevölkerung, also immerhin sieben Millionen Menschen, entweder im Gefängnis befinden oder auf Bewährung in Freiheit. Das es Unterschiede gibt zwischen „jail“, „prison“, und „penitentiary“. Dass es so etwas wie Zuchthäuser noch gibt, und das viele dieser Anstalten privatisiert wurden. Der Staat zahlt der Betreibergesellschaft einen bestimmten Betrag pro Gefangenem und Tag, diese sorgt im Gegenzug dafür, dass sich die betreffende Person nicht ungeplant in Freiheit begibt. Was ansonsten geschieht, ist dem System relativ egal – solange nur nicht zu viel davon an die Öffentlichkeit kommt und politischen Aufruhr produziert. Unnötig zu erwähnen, dass ein gewisses Interesse daran besteht, die teuer errichteten Gefängnisse immer schön gefüllt und die Kosten pro Gefangenem niedrig zu halten. So kommt es denn schon mal dazu, dass man Straftäter in winzigen Zellen – zwei auf drei Meter mit betonierten „Möbeln“ – mehrere Wochen mit unzureichender Verpflegung und ohne Ausgang verschwinden lässt. Mir schien das alles ein wenig übertrieben, wie manche Artikel eben geschrieben sind, als Francesco mich plötzlich sehr ernst anschaute.

„Ich war schon mal in so einer Zelle“ sagte er, und begann nach kurzem Zögern zu erzählen, wie es dazu gekommen war.

Es war etwa ein Jahr nach dem elften September, als er und ein Kollege kurzfristig und dringend in die USA reisen mussten. Sie waren damals beide als Elektroniker in der Instandhaltung tätig, und es gab ein Problem mit den Maschinen in dem neuen Werk in South Carolina. Sie flogen also mit kompletter Ausrüstung dorthin und wurden von der Firma instruiert, um Himmels Willen bloß nicht im Einreiseformular als Reisezweck „Business“ anzukreuzen, sondern „Tourism“. Man bekäme sonst Scherereien mit der Steuerbehörde, weil so viele von den Technikern so lange Zeit drüben waren, und bisher sei das auch immer gut gegangen. Jetzt kamen die beiden aber in eine der damals sehr häufigen zufälligen und verdachtsunabhängigen Sicherheitskontrollen und wurden ausführlich befragt. Man glaubte nicht, dass zwei junge Italiener aus Deutschland für vier Tage zum Urlaub kämen. Sie wurden nervös und verstrickten sich in Widersprüche. Daraufhin befahl man ihnen, in einen gesonderten Raum zu warten und konfrontierte sie mit ihrem Gepäck. Es waren schwere Metallkoffer mit Werkzeug, einem Oszilloskop, Laptops, elektronischen Bauteilen und Disketten. Die Floppys brauchte man damals noch für die Spritzgussmaschinen. Man programmierte alles, was heute direkt an der Maschine gemacht wird, auf dem Computer, der Compiler wandelte das in eine maschinenlesbare Binärdatei um und speicherte diese auf einer Diskette. Die wurde dann direkt in den Maschinencomputer gesteckt, und man konnte loslegen. Zusätzlich hatte Francesco noch einige Papiere vorbereitet, beide hatten kaum Reiseerfahrung. Er hatte also bereits in Deutschland Luftbilder vom Werk und der Umgebung ausgedruckt und mit rotem Filzstift einige Orte mit Kreuzen markiert – italienische Restaurants. Zusätzlich hatte er handschriftlich eine Kurzanleitung dazugelegt, wie man die Maschinen zum Laufen brachte.

  • Werkzeugmontage

  • Einspritz- und Zuhaltedruck einstellen

  • Granulat überprüfen

  • Zykluszeit festlegen

  • und eben am Schluss die Binärdatei von der Diskette, die .BIN laden

Fett und doppelt unterstrichen. Es dauerte keine dreißig Sekunden, und sie hatten Handschellen an und wurden in den Sicherheitsbereich des Flughafens und von dort auf direktem Weg ins Mecklenburg County Jail gebracht. Man nahm ihnen alles ab, sie wurden geduscht, bekamen orangene Overalls und wurden in eine Zelle gesperrt. Zu den Mahlzeiten mussten sie antreten und wurden gezählt, drei Mal am Tag. Nach draußen in den Hof durften sie nicht. Beim Essen setzte sich ein riesiger Schwarzer zu Francesco, stellte sich als Joe vor und fragte sehr höflich, ob er sein Essen haben dürfte. Er hat es ihm gegeben. Joe sagte, er solle sich von den Weißen und Hispanics fernhalten, das wären sehr gefährliche Leute. Wenn er sicher sein wollte, sollte er sich an „die Niggers“ halten, und übrigens habe er immer noch Hunger und würden ihn zum Abendessen wieder sehen. Dann wollte er wissen, was Francesco ausgefressen haben. Er habe übrigens seiner Frau und deren Liebhaber in den Mund geschossen, sagte Joe lapidar. Er war schon einige Jahre dort und hatte noch weitere zwanzig abzusitzen. Francesco hatte die nächsten zwei Tage bis auf die kurzen Mahlzeiten, die ohnehin von Joe gegessen wurden, in seiner winzigen Zellen verbracht, ohne Aussicht oder Tageslicht, ohne Telefon, ohne Kontakt nach draußen und ohne zu wissen, was los ist. Am dritten Tag gegen Abend hat ein Anwalt der Firma ihn und seinen Kollegen rausgeholt. Sie wurden in Hand- und Fußfesseln direkt ins Flugzeug gebracht, nach Deutschland zurückgeschickt und bekamen ein lebenslanges Einreiseverbot. Das wurde später auf sechs Jahre reduziert, und mittlerweile dürfen beide auch wieder rüber, aber sie werden jedes Mal komplett gefilzt und es dauert ewig, bis die Koffer kommen.


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