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  • Christian Knoche

Strange Days

Es war eine wahrlich seltsame Zeit. Eine Zeit, in der alte Männer knallrote Hosen trugen und man Coca Cola in Flaschen aus Plastik verkaufte. Das selbe Plastik, dass man bis in die hintersten Wälder und Winkel Kanadas und Sibiriens auf dem Boden finden konnte, und das in Teppichen so groß wie Kontinente auf den Meeren schwamm. Es war eine Zeit, in der viel geredet und wenig getan wurde, in der die Gesetze immer strenger und die Autos immer größer wurden, in der den Menschen die Welt offen stand und sie so verschlossen wie nie machte. Eine Zeit, in der viele viel zu viel hatten und immer mehr wollten, und in der noch viele mehr so wenig hatten, dass sie hungerten.

In dieser seltsamen Zeit wurde unsere junge Heldin geboren. Hätte es damals schon eine genaue Erfassung der Daten gegeben, was technisch durchaus möglich war, hätten die Eltern des kleinen Mädchens gewusst, dass ihr Kind Mensch Nummer 8.589.869.056 war. Nicht absolut gesehen natürlich, sondern in Bezug auf die aktuelle Weltbevölkerung. Sie hätten auch gewusst, dass es gut eine halbe Milliarde mehr Menschen gab, als der offizielle Zensus der UN es behauptete. Weniger als eine halbe Sekunde später folgte ihr ein kleiner Junge in Rwanda mit der Nummer 8.589.869.057.

Die Nummer des kleinen Jungen, der genau vier Minuten und achtzehn Sekunden später starb, war nichts Besonderes. Die Nummer unserer Heldin hingegen war etwas Besonderes. Sie war eine sogenannte vollkommene Zahl, genau gesagt die sechste vollkommene Zahl, die es gibt. Die Zahl wurde bereits im Jahre 1588 entdeckt, und zwar von einem Mathematiker namens Pietro Cataldi, der in diesem Jahr an der Kunstakademie von Bologna lehrte und, während er seine Studenten eine seiner Abhandlungen über Pythagoras lesen lies, aus Langeweile diese Zahl fand. Das Besondere an einer vollkommenen Zahl ist, dass sie gleich der Summe aller ihrer positiven Teiler ausser sich selbst ist. Die kleinste vollkommene Zahl ist die 6. Die Teiler von 6 sind 1, 2 und 3. Addiert man sie, erhält man wieder 6.

Führen wir uns nun vor Augen, dass Cataldi im Jahre 1588 weder einen Taschenrechner noch sonstige Hilfsmittel zur Verfügung hatte und alles durch Probieren herausfinden musste, können wir einen Eindruck davon gewinnen, wie langweilig ihm gewesen sein muss. Der Tag, an dem Cataldi die sechste vollkommene Zahl entdeckte, war übrigens genau der Tag, an dem die Weltbevölkerung für immer die Grenze von einer Milliarde überschritt. Weder Cataldi noch unsere junge Heldin hatten allerdings eine Ahnung davon. Cataldi wusste auch nicht, dass es nur vierhundert Jahre dauern würde, bis die Weltbevölkerung seine Zahl überschritt, sich also mehr als verachtfachte. Es war aber auch nicht so, dass er darüber nachgedacht hätte. Ihm war zwar langweilig, aber war immer noch ein Mathematiker, und als solcher interessierte er sich naturgemäß viel mehr für Zahlen als für Menschen. Wäre es anders gewesen, hätte er bemerkt, dass seine Studenten sich ebenso langweilten und ihr Interesse für Pythagoras nicht annähernd dem seinen gleichkam. All dies aber hat im Prinzip überhaupt keine Bedeutung für das, was unserer jungen Heldin in ihrem Leben widerfahren und was sie erreichen sollte.

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