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  • Christian Knoche

Stadt ohne Zukunft

Hier eine weitere Hausaufgabe aus dem Schreibkurs. Als Inspiration diente ein Auszug eines Theaterstücks von Sören Heim, das ich aus urheberrechtlichen Gründen hier nicht veröffentliche. Die Aufgabe war, eine Geschichte aus zwei verschiedenen Erzählperspektiven darzustellen.

1.

Einst gab es eine Stadt, die blühte und gedieh. Heute wird sie auf den Landkarten nicht mehr eingezeichnet. Damals, als der See noch riesig war und voller Wasser und Fische, lag die Stadt auf einer Insel, fast schon geheimnisvoll und voller Hoffnung. Nur wer einen speziellen Ausweis vorzeigen konnte, durfte mit einem der Fährboote übersetzten, die mehrmals am Tag zwischen Ufer und dem kleinen Hafen der Insel pendelten. Die Behörde hatte diesen Ort ausgesucht, weil er schwer zugänglich war. Die Insel war schon lange bekannt, aber niemand hatte sich dafür interessiert. Das Weideland an den Ufern des Sees war fruchtbarer, und die Fischer fuhren mit ihren Booten von dort aus hinaus. Eines Tages kamen Männer von der Behörde und sperrten die Insel ab, die niemand wollte. Man begann, eine Stadt darauf zu bauen, viele dieser hohen Häuser mit vier Stockwerken und mehr, die es im Dorf am Ufer nicht gab. Eine Schule wurde gebaut, ein Schwimmbad, ein großer Spielplatz und sogar ein Kino. Auf die Insel durften nur Mitarbeiter der Behörde und deren Familien, und wenn sie einmal dort waren, durften sie die Stadt nicht ohne wichtigen Grund wieder verlassen. Es waren fast nur Wissenschaftler und Soldaten, und alles war neu und aufgeräumt und ordentlich. Die Soldaten bewachten die Insel und die Stadt, und sie fuhren mit Booten um die Insel herum und stoppten Fischer, die zu nahe kamen. Sie waren immer freundlich. Einige Leute aus dem Dorf bekamen einen Ausweis von der Behörde, durften in der Stadt leben und für die Wissenschaftler und Soldaten putzen oder kochen. Sehr selten durften sie für einen Tag in das Dorf zurück. Ein großes Labor gäbe es dort, so erzählten sie dann. In dem Labor seien Affen. Niemand hatte sie gesehen, aber sie hatten es von den Wissenschaftlern gehört. Manchmal, an sehr ruhigen Tagen, wenn der Wind richtig stand, hörte man im Dorf am Ufer die Geräusche aus der Stadt auf der Insel. Autos und Busse fuhren, Kinder spielten und manchmal gab es abends Musik und man konnte bunte Lichter funkeln sehen. Ab und zu kamen Mitarbeiter der Behörde und kauften Fisch oder Fleisch oder Kartoffeln, sie kauften alles auf, was sie bekommen konnten. Viele Leute aus dem Dorf am Ufer sehnten sich nach der Stadt auf der Insel, aber niemand durfte mehr dort hin und niemand bekam neue Ausweise von der Behörde. Was sie nicht wussten, war, dass sich auch viele Leute aus der Stadt nach dem Dorf sehnten.

In einer stillen Nacht im Winter, in der Schnee aus vielen Tagen jedes Geräusch schluckte und der Mond so riesig und rot und hell über dem See stand, das manche glaubten, es sei die aufgehende Sonne – in dieser stillen Nacht gab es plötzlich ein lautes Rumpeln und Beben. Im Dorf vibrierten die Scheiben und die Gläser in den Schränken, dann gab es über den Schnee hinweg einen furchtbaren Knall und überall lag gebrochenes Glas in den Häusern. Manche Bewohner des Dorfes wurden im Schlaf schlimm verletzt von den herumfliegenden Scherben. Ein unheimlicher Schein, heller als der Mond und dreimal so rot, schien von der Stadt auf der Insel her und ließ den weißen Schnee rot werden, und auch das Wasser des Sees.

Von dieser Nacht an fuhren die Fähren nicht mehr, und die Soldaten auf den Booten stoppten die Fischer schon viel weiter von der Insel entfernt als sonst. Sie waren auch nicht mehr freundlich und trugen Gummimasken mit großen, unheimlichen Glotzaugen und langen Schläuchen daran, durch die man ihre Stimmen kaum verstehen konnte. Von dieser Nacht an hörte man die Geräusche von der Stadt auf der Insel auch an weniger stillen Tagen bis an das Ufer. Es knallte und ratterte, manchmal die ganze Nacht, und auch Kinder hörte man immer wieder, nur spielten sie nicht mehr. Irgendwann wurden die Geräusche weniger, bis sie schließlich ganz verschwanden. Es wurden Schilder aufgestellt mit Totenköpfen darauf, und auch die Soldaten verschwanden. Niemand kannte mehr die Stadt auf der Insel, deren Ruinen man bei klarem Wetter vom Dorf aus sehen konnte. Wenn, was selten vorkam, jemand durch das Dorf reiste und nach der Stadt fragte, wandten die Bewohner sich ab und gingen ihrer Wege. Für sie schienen die grauen Silhouetten der Häuser unsichtbar zu sein, noch nicht mal die Insel schienen sie sehen zu können. Immer, wenn der Wind vom Wasser her wehte, brachte er Staub, und mit dem Staub kam der Tod. Das Wasser wurde schaumig, und tote Fische lagen am Strand oder trieben in der Brühe, die Bäuche nach oben. Vieh lag aufgebläht auf den Weiden, Kinder und Alte wurden rot, ihre Gesichter und Körper quollen auf und sie starben unter Schreien, mehrere Tage lang. Niemand redete darüber. Man begrub die Toten und lebte weiter. Es waren nur noch wenige Bewohner im Dorf, und es gab nur noch wenig Vieh und fast keine Fische mehr aus dem See.

Irgendwann begann der See selbst zu verschwinden. Das Wasser wurde flacher und zog sich weiter und weiter zurück. Die letzten Fischer gaben ihre Boote auf, die nun mit denen der toten Fischer zusammen auf dem Kies und Sand lagen, der einst der Grund des Sees gewesen war. Ihre Kiele berührten den Grund, sie kippten zur Seite und blieben mit dunklen Fenstern und rostenden Aufbauten liegen.

Als der See verschwand, kamen die Soldaten wieder. Sie lungerten im Dorf herum oder liefen mit schweren Stiefeln aus Gummi zwischen dem Dorf am Ufer und der Stadt auf der Insel umher. Der Insel, die nun keine mehr war. Gerade nachts knallten ihre Gewehre, und am Morgen saßen sie mit leeren Gesichtern vor ihren Zelten. Wenn der Staub kam, trugen sie ihre unheimlichen Masken, aber auch von ihnen wurden dann manche rot und quollen auf und starben. Aber anders als im Dorf kamen von ihnen immer neue, welche die Toten ersetzten. Manchmal kam nachts jemand durch das Dorf, von dem manche sagten, er habe früher dort gelebt. Er ging zwischen der Insel, die keine mehr war, und dem Dorf hin und her und brachte Menschen mit, die jenseits des Dorfes in der Weite der Landschaft verschwanden. Dann nahm er Kartoffeln und Kohl mit, soviel, wie er tragen konnte, manchmal noch ein paar Kerzen, und ging wieder zurück. Man gab ihm, was man entbehren konnte. Niemand im Dorf stellte Fragen. Er war so unsichtbar wie die Ruinen der Stadt.

2.

Gestern bin ich neunzehn geworden. Neunzehn! Wahnsinn. Vater hat es wohl vergessen, er war mit einem Transport unterwegs. Niemand hat es geschafft diesmal, und ihn selbst hätte es auch fast erwischt. Andererseits, was hätte er auch machen sollen? Ein bisschen mehr Kohl und Kartoffeln in die Suppe werfen und eine neue Kerze anzünden, obwohl die alte erst halb abgebrannt war, zur Feier des Tages? Trotzdem, eine Umarmung und ein liebes Wort wären schön gewesen. Aber das ist eben so in diesen Zeiten. Im Grunde hat man hier jeden Tag Geburtstag. Das Geschenk jeden Tages ist es, noch am Leben zu sein. Und das ist in dieser Stadt wirklich schwer genug. Ein kleiner Fehler, ein falscher Schritt, eine unbedachte Bewegung, und das wars. Entweder einer derjenigen, die noch Gewehre haben, erwischt einen aus einem der dunklen Löcher, in denen mal Fenster waren. Oder man läuft durch die falsche Straße und wirbelt Staub auf und atmet den ein. Oder man ist nachts zu laut oder ein Schein der Kerze dringt nach draußen, und sie finden einen im Versteck. Hab neulich von einem gehört, der zu laut schnarchte, und so haben sie ihn und die ganze Familie entdeckt. Peng, peng, peng, peng – vier weniger, das wars. Fast jeder, der noch bei Verstand ist, will hier weg.

Nur Vater nicht. Aber ich glaube, seit Mutters Tod ist auch er nicht mehr bei Verstand. Mutter wollte auch immer hier weg, daran kann ich mich gut erinnern. Herrgott, wir lang ist das schon her? Vierzehn Jahre jetzt, fast. Vierzehn! Wahnsinn. Sie hätte meinen Geburtstag nicht vergessen. Mutter wollte hier schon weg, als es noch eine richtige Stadt war. Aber Vater wollte nicht. Er hat immer gesagt, es geht nicht, die Behörde lässt uns nicht weg, zumindest nicht, bis die Forschungen abgeschlossen sind. Ich glaube trotzdem, er wollte nicht. Ihm hat das Spaß gemacht, mit den Affen und allem, was sie da im Labor so gemacht haben. Einmal gab es einen Schulausflug dahin, und ich durfte einen der Affen streicheln. Das war wirklich ein Erlebnis für uns Kinder, ich werde das nie vergessen. Später dann waren die Affen die größte Gefahr hier in der Stadt, jedenfalls direkt nach den Menschen und dem Staub. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zum letzten Mal einen gesehen habe. Ist jedenfalls mehr als ein Jahr her. Die waren schnell und leise und hatten riesige Zähne.

Wie es wohl woanders ist? In einer richtigen Stadt, mit richtigem Leben? Ob es sowas überhaupt noch gibt? Man hört ja nichts von draußen, von woanders. Es gehen nur Leute weg, herkommen tut hier niemand. Außer vielleicht mal eine Truppe von der Miliz, aber dann sind alle verschwunden, wie die Ratten in ihren Löchern. Ganz selten finden die mal jemanden. Ist aber auch gar nicht notwendig, wir bekommen das schon allein ganz gut geregelt mit dem Umbringen. Es gibt nur ein paar wenige Ecken hier, die noch einigermaßen sicher sind, und die will jeder für sich, ist ja klar. Oststadt-Olli zum Beispiel, oder die Bütten-Buben – da muss man aufpassen, dass man nicht zwischen die Fronten gerät. Die sind so schnell mit dem Messer und so leise, die sind sogar gefährlicher als die Affen. Ich brauch diesen ganzen Mist hier nicht. Ich kann es auch nicht mehr ertragen. Ist mir egal, was Vater sagt, ich kann diese ewige Leier nicht mehr hören. Woher dieser Wahnsinn kommt, jede Nacht da draußen in dem Schlick und Sand sein Leben zu riskieren, nur damit ein paar Leute vielleicht wegkommen von hier? Und er kommt immer mit Kohl und Kartoffeln zurück, immer wieder nur mit Kohl und Kartoffeln. Es ist das sicherste Essen, sagt er. Ich kann mich schon gar nicht mehr daran erinnern, wie Fleisch schmeckt. Oder Schokolade. Ich gehe hier weg, das steht fest.

Helfen! Wem soll ich denn helfen, und wie? Was kann man denn hier schon tun, außer auf den Tod warten und sich durch die Tage quälen und durch die Nächte zittern? Helfen! Klar, Vater macht das gut. Die Stadt müsste eigentlich lang schon leer sein, so viele hat er schon rausgeschafft. Aber immer wieder finden ihn Leute, die wegwollen. Ich frage mich, warum er nicht selbst geht. Warum er nicht gegangen ist, als Mutter noch gelebt hat. Allen hilft er, nur mir will er den Weg nicht zeigen. Zu gefährlich, sagt er. Und was soll ich machen, wenn er mal nicht zurückkommt? Ich glaube fast, er fühlt sich schuldig. Vielleicht, weil er Mutter nicht geholfen hat. Deshalb hilft er jetzt all den Anderen, um seine Schuld zu bezahlen. Und vergisst dabei schon wieder seine Familie. Manchmal redet er nachts im Schlaf, und ich muss ihm den Mund zuhalten, damit man ihn draußen nicht hört. Immer wieder redet er dasselbe. Irgendwas von den Affen und einer Chemikalie und dann schreit er. Druck, zu viel Druck, viel zu viel Druck, und dann beginnt er zu weinen und wacht auf. Manchmal glaube ich, er hat das alles verbockt. Hat irgendeinen Fehler gemacht im Labor, und dann ging alles schief. Und deswegen kann er nicht weg, bis er allen geholfen hat. Allen, außer mir. Weil er nicht allein bleiben will hier. Was ich tun soll, sagt er mir aber auch nicht. Und Antworten auf meine Fragen hat er auch keine. Immer nur Zweifel und noch mehr Fragen, das sind seine Antworten. Und das man doch den anderen helfen muss.

Helfen! Es ist mir egal. Ich gehe. Ich glaube, es gibt keinen guten Weg, ihm das zu sagen. Also sage ich es jetzt einfach.



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