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  • Christian Knoche

Yom Kippur

Es war schwül in den ersten Oktobertagen des Jahres 1973. Der Himmel hing diesig über Tel Aviv und ließ in unregelmäßigen Abschnitten die Sonne durch, was sofort zu großer Hitze und dicker Luft führte. Elis leichte Uniformkleidung hing klebrig am Körper. Jede Bewegung fiel schwer. Das bunte Treiben in den Straßen war in den letzten Tagen langsam wieder in Gang gekommen, wenngleich nicht so wie vor den jüngsten Ereignissen. Soldaten lagen an den Stränden, gingen baden und aßen. Es waren schwierige Tage gewesen, und trotzdem waren die meisten Menschen gut gelaunt und aktiv. Man verstand es eben, die Zeit zu nutzen. Ein beständiges Rauschen, Brummen, Hämmern und Lärmen zeugte von den unermüdlichen Wiederaufbauarbeiten. Ab und zu donnerten Kampfflugzeuge tief über die Stadt, entluden irgendwo im Hinterland ihre tödliche Last und kehrten wieder zurück. Von oben musste Tel Aviv aussehen, als hätte jemand wiederholt in einen Ameisenhaufen getreten. Die Zerstörungen waren unverkennbar, und dort, wo sie größten waren, war auch das Gewimmel von Menschen und Baumaschinen am stärksten. Die Explosionen, das Donnern und Tackern wurden weniger, weiter entfernt, in größeren Abständen. Die Flugzeuge flogen seltener. Man konnte inmitten der Häuser und all des Betons kaum erahnen, wie nah alles vor dem Ende gestanden hatte. Eli dachte an seinen Geburtstag vor genau vierzehn Tagen. Was er nicht wusste, war, was sich einige Stunden vorher im nur eine Autostunde entfernten Jerusalem hinter verschlossenen Türen abgespielt hatte. Und wie nahe die Welt am Abgrund gestanden hatte.

Vor vierzehn Tagen, genau an seinem zwanzigstem Geburtstag und gleichzeitig dem Auftakt zum höchsten jüdischen Fest Yom Kippur trafen sich um kurz nacht acht Uhr morgens drei Leute. Verteidigungsminister Moshe Dayan, Premierministerin Golda Meir und der Chef des Generalstabes David Elazar. Es wurde nach Sichtung der Aufklärungsfotos und einiger vom Mossad gelieferter Fakten schnell klar, dass man sich zu sicher gefühlt hatte. Die arabischen Staaten ringsum, allen voran Syrien und Ägypten, hatten einen massiven Aufbau von Truppen an den Grenzen gestartet. Ein Angriff schien unvermeidlich, der Zeitpunkt an einem hohen Feiertag typisch für die arabische Kriegsstrategie. Trotzdem hattn nur wenige mit einem so massiven Aufgebot der Araber gerechnet. Letztlich konnte nur die Sowjetunion dahinterstecken, zwar sicher nicht als Initiator, aber als Lieferant all der Waffensysteme, Panzer und Flugzeuge. Man wolle diesmal Israel endgültig von der Landkarte tilgen, sagten einige der Geheimdienstberichte. Andere sprachen von einer Drohkulisse ohne ernsthafte Angriffsabsichten. Der Generalstabschef befürwortete einen Präventivschlag, wie ihn die israelische Militärdoktrin seit langem vorsah. Man war bisher davon ausgegangen, selbst im schlimmsten Fall immernoch 48 Stunden Vorwarnzeit zu haben. Genug für Israels hochgerüstetes Militär, um eine Mobilmachung der wesentlichen Kräfte und Präventivschläge durchzuführen. Das man sich jetzt in dieser Situation befand, war nicht ideal und auch nicht vorgesehen. Moshe Dayan schlug trotzdem vor, noch abzuwarten, da die Faktenlage nicht eindeutig war und er einen Angriff nicht als gegeben ansah. Bevor die Diskussion zwischen ihm und Elazar allzu hitzig wurde, schaltete sich Golda Meir ein.

„Meine Herren, es wird keine Präventivschläge geben!“

„Frau Premierministerin, alles deutet auf einen Angriff hin!“, protestierte Elazar, „Die Truppenbewegungen sind massiv und so noch nie dagewesen. Die Ausrüstung geht weit über das hinaus, was man für normale Truppenmanöver benötigt. Besonders am Suezkanal sind Unmengen von Gerät zu Überquerung bereitgemacht. Wir wissen, dass Syrien nicht ohne Ägypten angreifen wird, und jetzt stehen beide Armeen vor den Toren. Sie haben alles, was sie brauchen, in den letzten Monaten bekommen. MiG 21 und Su-7 Kampfjets, Scud-Raketen, jede Menge Panzer…“

„David!“, unterbrach ihn Golda Meir, „Das ist mir alles bekannt. Du hast sehr wahrscheinlich auch Recht. Aber wenn das alles so stimmt, und davon gehe ich aus, dann müssen wir die harten Fakten akzeptieren.“

„Und die wären?“, wollte David Elazar wissen.

„Das wir aus eigener Kraft einen solchen Angriff nicht abwehren können.“

„Und genau deswegen müssen wir jetzt losschlagen, wo wir noch können, und wenigstens ein winziges Überraschungsmoment auf unserer Seite haben!“

„,Auch wenn wir sofort losschlagen, wird es nicht reichen. Wir werden Hilfe benötigen.“

„Verdammt nochmal“, brüllte Elazar, „Seit Monaten haben versorgt uns der MOSSAD mit den Fakten! Seit Monaten wissen wir, was da los ist! Und wir sitzen rum, ziehen den Kopf ein und hoffen, dass es schon nicht so schlimm wird. Und jetzt, wo es fast zu spät ist, sollen wir weiter abwarten?“

Elazars Kopf war rot geworden. Er atmete durch, stützte die Fäuste auf den Schreibtisch und beugte sich vor.

„Frau Premierministerin“, sagte er in ruhigem Tonfall, „Wenn wir Hilfe brauchen, dann ist das eben so. Das war schon öfter so. Deutschland, Frankreich, Italien – die können alle etwas schicken, das sollte schnell gehen. Wir hören doch immer wieder deren Beteuerungen. Aber warum sollten wir warten? Wir machen den Anfang, dann müssen sie uns doch zur Hilfe kommen.“

„Die Europäer, allen voran die Deutschen, haben die Köpfe so tief in ihren eigenen Ärschen, dass sie nie wieder das Tageslicht sehen werden“, schaltete sich Moshe Dayan ein, „Die haben so viel Schiss vor der OPEC und einer Ölkrise, das sie uns ohne mit der Wimper zu zucken opfern werden!“

„Umso mehr ein Grund, sofort anzugreifen!“

Golda Meir seufzte.

„Eben nicht, David. Wenn wir angreifen, werden sie uns die Schuld geben. Dann bricht unsere Unterstützung völlig weg.“

Die Premierministerin drehte sich um, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und sah aus dem Fenster auf die uralte Stadt, die so vielen Menschen heilig war.

„David“, sagte sie, „Ich habe mit den Amerikanern telefoniert und werde mich jetzt sofort auf den Weg machen ins Konsulat. Vielleicht lässt sich da noch etwas richten. Wir treffen uns in vierundzwanzig Stunden wieder. Aber es darf keine Präventivschläge geben! Wenn wir zuerst losschlagen, ist unsere Unterstützung dahin und wir sind verloren.“

„Dann möchte ich wenigstens mobil machen, Frau Premierministerin!“, sagte Elazar resigniert.

Golda Meir schaute zu ihrem Verteidigungsminister.

„Moshe?“

„Nur die Luftwaffe und vielleicht einige Sondereinheiten. Du hast Recht, Golda. Wir dürfen nicht zusätzlich provozieren.“

Meir überlegt, dann drehte sie sich zu Elazar.

„Generalmobilmachung, David. Wir greifen nicht an. Aber wir mobilisieren alles, was laufen kann. Die gesamte Truppe, Reservisten, alles.“

Elazar salutierte, drehte sich um und wollte gehen.

„David?“, sagte Meir ruhig.

Elazar blieb stehen, den Blick noch immer in Richtung Tür.

„Es darf auf gar keinen Fall zuerst geschossen werden.“

Er nickte stumm und verließ das Büro.

Einen Tag später waren er wieder dort. Meir kam in Eile herein und schloss die Tür.

„Entschuldigung“, sagte sie, „Ich war noch am Telefon. Die Amerikaner wollen versuchen, mit diplomatischen Mitteln einen Angriff abzuwenden. Man hat uns Hilfe zugesagt, für den Fall, dass es eng werden sollte. Wenn die Araber angreifen, müssen wir da aber erstmal allein durch und abwarten, ob es wirklich so dick kommt. Kissinger höchstpersönlich hat mich vor einem Präventivschlag gewarnt, David. Er sagte, wenn wir zuerst angreifen, wird man uns nicht mehr helfen können. Wir müssen also warten, was passiert. Wie läuft die Mobilmachung?“

„Überraschend gut“, antwortete Elazar, „Yom Kippur entpuppt sich ironischerweise als Segen. Fast alle sind zu Hause bei ihren Familien und somit leicht zu erreichen. Die Straßen sind frei, und wir können die Truppen schnell zu den Kasernen bewegen und ausrüsten. Ich denke, morgen Abend sollten wir neunzig Prozent der Streitkräfte bereit haben.“

Meir pfiff leise.

„Nicht schlecht. Das ist deutlich schneller, als es in den Szenarien geplant wurde, richtig?“

„Ja. Das verschafft uns vielleicht etwas Luft.“

„Gut. dann können wir jetzt nur noch abwarten.“

Knapp zwei Stunden später schlugen die Ägypter los. Kampfflugzeuge und Panzer überquerten die Grenze und schossen auf alles, was sie vorfanden. Ein andauernder Artilleriebeschuss setzte den israelischen Verteidigern gewaltig zu. Und Eli Retzev war mittendrin.

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